Danke, Dr. Schwarz
Schon immer war ich ein von Natur aus rastloser Mensch. Oft fällt es mir schwer, innezuhalten und den Moment ganz bewusst wahrzunehmen und auszukosten. Gedanklich bin ich dann unaufgeräumt und schon ganz wo anders. Ständig auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer, der nächsten Herausforderung, dem nächsten Endorphin-Rush. Diese Rastlosigkeit trieb mich an, aber sie brachte auch eine ständige Unruhe mit sich.
Ich würde mich nicht als chronisch unkonzentriert beschreiben. Wenn es drauf ankommt, kann ich sehr gut und ausdauernd fokussiert sein. Aber das ist der springende Punkt: „Wenn es drauf ankommt“.
Während meines Studiums, in der Arbeit und auch sonst in Situationen, die es dringend erfordern, bin ich klar und fokussiert.
Aber was ist mit mir? In meiner Freizeit fiel es mir sehr schwer die innere Mitte zu finden, abzuschalten und bewusst zu genießen. Dabei wusste ich, dass mir das eigentlich nicht guttut. Klar war (nach kurzen und eher halbherzigen Versuchen), dass Achtsamkeitsübungen und Meditation für mich nicht funktionieren, ohne dass ich mich ausdauernd darum kümmere und das Abschalten auf diese Weise erlerne. Dafür bräuchte ich Geduld, die ich als rastloser Mensch eben nur aufbringen kann, wenn ich es wirklich muss oder wenn mich etwas brennend interessiert und so richtig packt.
Da saßen wir nun. In einem Klassenraum, der bedauerlicherweise überwiegend mit Personen gefüllt war, die kein näheres Interesse am Lehrgegenstand der Akademie hatten. Da waren zum einen die Bundeswehrangehörigen, die unfreiwillig von ihrem Dienstherrn dorthin entsendet wurden und zum anderen einige zivile Personen, die von der Agentur für Arbeit zur Teilnahme an der Ausbildung verdonnert wurden.
Mit müden Augen schaute ich auf die (ausgerechnet oberhalb der Tafel mittig angebrachte) Wanduhr. Die Zeiger zeigten Viertel nach acht Uhr an. Der Unterricht sollte eigentlich um 08:00 Uhr, oder wie es bei der Bundeswehr hieß, um „nullachthundert“ beginnen. Ich war, wie bereits eingangs erwähnt, durchgetaktet bis in die damals noch vorhandenen Haarspitzen und ich war es nicht gewohnt, dass ein Ausbilder zu spät erscheint. „Zeiten setzen, Zeiten halten“ ging es mir durch den Kopf.
Da öffnete sich die Tür und ein kleiner, etwas untersetzter Mann trat herein. Sein minimalistischer Kleidungsstil versprühte sofort eine gewisse künstlerische Ernsthaftigkeit im Raum. Klare Linien, schlichte Schnitte und hochwertig anmutend –Rollkragenpullover und Trenchcoat. Einfach und funktional. Selbst die Unpünktlichkeit und seinen Berliner Dialekt trug Dr. Peter Schwarz gekonnt als Accessoire. Ohne Tagesgruß und methodischen Einstieg erteilte er uns unvermittelt die erste Lektion: „Ick werd' mir nich entschuldigen, denn dit, meine Lieben, is cum tempore - dit Akademische Viertel. Jewöhnt euch dran, wir ham keene Eile.“
Dr. Schwarz schaffte es, trotz seiner leichten Arroganz und -nach objektiven Kriterien- unfreundlichen Art, mich ab der ersten Sekunde zu erreichen. Kurioserweise war mir sofort klar, dass in diesem Menschen ein enormer Wissensschatz geborgen liegt und dass er ihn gut hüten und nur mit Schülern teilen wird, die er als würdig erachtet.
Wie gefesselt musterte ich jeden Handgriff, den er tat. Scheinbar desinteressiert und irgendwie angestrengt legte er seine Tasche auf dem Pult ab. Das dunkle, abgewetzte Leder war von einer reichen Patina überzogen und hatte tiefe, charaktervolle Falten entwickelt, die den Eindruck erweckten, als könnte selbst die Tasche von ihren Erlebnissen berichten. Und da holte er sie hervor: Die erste Fotokamera in meinem Leben, die ich mit bewusstem Interesse wahrgenommen habe. Eine Leica M6. Die Kamera, ganz in schwarz gehalten, schien nicht nur perfekt zu seinem Namen, sondern auch zu ihm selbst zu passen. Schlicht und auf das Wesentliche reduziert.
Dr. Schwarz lehrte, dass die Fotografie keinen Regeln folge, und dass sie ihm deshalb so gefiele. Er ergänzte, dass man die Regeln jedoch erst kennen lernen müsse, bevor man sie brechen dürfe. So sollte es sein: Ich lernte ISO und ASA, Blende und Verschlusszeit, Brennweite und Filmformate kennen. Dr. Schwarz zeigte uns Arbeiten von James Nachtwey, von Ansel Adams und Henri Cartier-Bresson. Die gezeigten Bilder faszinierten mich ebenso, wie der Dozent selbst. Ich saugte alles auf und war Feuer und Flamme.
Zur Mitte des Moduls bekamen wir eine Aufgabe. Wir sollten uns mit Kameras aus dem Bestand der Akademie ausstatten und den Leipziger Wochenmarkt besuchen. Inmitten des dortigen Treibens sollten wir fremde Menschen fotografieren - ohne sie vorher um Erlaubnis zu bitten. Die von einigen Schülern geäußerten rechtlichen Bedenken diesbezüglich tat Dr. Schwarz mit einer kurzen aber absolut glaubhaften Anekdote darüber ab, dass er wegen seiner Fotografie bereits in Chile für kurze Zeit in Haft musste. Er sei auf dem Markt dabei und würde vermitteln, wenn es Ärger gäbe.
„Die Leute kieken alle Fernsehn. Alle staunen se über jute Bilder. Aber aufn Bild, da will keener druff. So jeetet nun halt och nich.“
Als eher verkopfter Mensch hätte es mir schwerfallen müssen, die Aufgabe zu erfüllen. Mit seiner irgendwie unverschämten, aber nachvollziehbaren Selbstverständlichkeit über die Dinge und die Menschen, machte Dr. Schwarz mir jedoch Mut. Er hatte schließlich recht – die Werke alter Meister der Fotografie währen nie entstanden, wenn ihre Schöpfer stets zunächst um Erlaubnis gefragt hätten. Und wir alle erfreuen uns an eben diesen unnachahmlichen Aufnahmen, die sich nicht nachstellen lassen. Die Lektion war klar: Wir sollten uns wagen, sollten mutig und selbstverständlich aber nicht übermäßig distanzlos und penetrant sein. Stille Beobachter mit geschärften Sinnen auf die Umgebung und auf die Ästhetik des Menschseins. Im Anschluss an den ersten Feldversuch forderte uns Dr. Schwarz auf, alle Bilder auszudrucken und im Klassenraum gemeinsam zu betrachten. Abzüge unserer Fotografien: Das war die nächste Lektion. Einsen und Nullen auf einer Speicherkarte, so kann man Bilder nicht anständig beurteilen. Fotografie ist ein Schaffungsprozess. Das Bild, ein physisches Artefakt aus Licht und Schatten, das es verdient, in der Hand gehalten zu werden.
Meine Bilder waren „scheiße“, wie Dr. Schwarz mir nach dem ersten Versuch auf dem Wochenmarkt sagte.
Euphemismen? Fehlanzeige. Jede noch so schonungslos an seine Lehrlinge gerichtete Ehrlichkeit wurde getreu der Devise -es ist ja Dr. Schwarz, der darf das- hingenommen und beim nächsten Mal produktiv umgesetzt. „Da sind die Köppe abjeschnitten, dit kannste machen, wennde es kapiert hast. Aber och erst dann!“
Der nächste Testlauf sollte im Leipziger Bahnhof stattfinden. Die Aufgabe: Reisende oder wartende Menschen auf den Sensor bannen.
Bis dahin vergingen leider noch einige Wochen; und während der Rest meines Ausbildungsjahrganges sich folgsam den neuen Modulen widmete, war ich im Kopf noch immer bei der Fotografie. Meine Güte, hat mich das gebremst - auf eine so wohltuende Weise.
Ich übte täglich und hatte das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben etwas gefunden zu haben, das mich vollkommen erfüllt.
Da war er nun, der Tag im Leipziger Hauptbahnhof. Stolz blieb ich auf meinem Stuhl sitzen, während der Rest der Klasse sich auf den Weg zur Technikausgabe machte, um sich eine Kamera aus dem Bestand geben zu lassen. Dr. Schwarz musterte mich und meine kleine Nikon. Sein Blick fiel auf das Kit-Objektiv. Ein kurzer Kommentar: „Sehr schön. Aber mit dem Flaschenboden da, wirste nich viel reißen.“ Gemeint war das 50-EUR Objektiv, das tatsächlich mehr chromatische Aberrationen produzierte als so manches frühes Linsensystem aus dem 17. Jahrhundert. Und doch fühlte ich mich geschmeichelt.
Im Hauptbahnhof angekommen, schwärmten wir aus. Unbeobachtet von Dr. Schwarz, der dieses Mal nicht zugegen war, ging das Gros der Azubis gemütlich Frühstücken. Da stand ich nun – fest entschlossen, das erste Mal für ein gutes Foto etwas zu wagen. Nach einigen Dutzend Bildern aus sicherer Distanz kam mir die Idee, am Bahnsteig wartende Menschen durch beide Fenster eines stehenden ICEs hindurch festzuhalten. „Vordergrund macht dit Bild jesund“ hörte ich gedanklich Dr. Schwarz predigen. Als ich mich dem ICE-Fenster näherte, sah ich im Zuginneren einen älteren Mann sitzen, der eine Zeitung las. Ohne zu zögern und wie ferngesteuert verwarf ich die zuvor gefasste Idee, betrat den wartenden ICE und portraitierte den lesenden Mann (welcher dies zum Glück nicht bemerkte). Das war es, mein erstes richtiges Bild aus hunderten Schnappschüssen. Es begeisterte nicht nur mich, auch Dr. Schwarz lobte mich in seinen höchsten Tönen: „Dit jeht wohl.“